Musterbeispiel für Inklusion: Schiri Stabel trotzt Lese-, Schreib- und Lernschwäche

Mario Stabel ist ein inklusiver Schiedsrichter aus dem Bayerischen Fußball-Verband. Kürzlich wurde er für sein Engagement als Unparteiischer durch die Dr. Markus und Sabine Merk-Stiftung ausgezeichnet. Der 43-Jährige wird durch eine ausgeprägte Lese-, Rechtschreib- und Lernschwäche beeinträchtigt. Wie kann er dennoch als Schiedsrichter tätig sein? Und wie wichtig ist der Fußball in seinem Leben?

Plötzlich beginnen die Augen von Mario Stabel zu leuchten. Nur seine Erinnerungen sorgen dafür. Nur die Bilder, die er gerade im Kopf hat. Seine Gedanken haben sich auf Zeitreise gemacht. Zurück zum 26. Mai 2016. Es war Fronleichnam vor acht Jahren, einer der größte Tage in Stabels Leben. Auf Einladung des Bayerischen Fußball-Verbandes (BFV) durfte Stabel in der Allianz Arena in München als Schiedsrichter Teil einer Mini-Inklusions-EM mit 24 Mannschaften sein.

Man muss dazu wissen: Stabel ist riesiger Fan des FC Bayern. Manuel Neuer, Thomas Müller und der verstorbene Franz Beckenbauer sind seine Helden. "Dieses Ereignis werde ich niemals vergessen. Es war einfach ein unbeschreibliches Gefühl, auf dem heiligen Rasen stehen zu dürfen", sagt der 43-Jährige. "Wenn ich heute noch darüber nachdenke, bekomme ich Gänsehaut."

"Extreme Beeinträchtigung"

Stabel ist ein besonderer Schiedsrichter. Er hat eine kognitive Beeinträchtigung. Stabel hat eine Lese-, Rechtschreib- und Lernschwäche. Was bedeutet das genau? "Wie der Name es schon sagt, kann ich schlecht schreiben und lesen", sagt Stabel. "Wenn ich etwas schreibe, dann genauso, wie ich es höre. Normalerweise können andere das nicht verstehen, wenn ich ihnen etwas zum Beispiel per WhatsApp mitteile."

Tatsächlich ist es so, dass man bei Stabels schriftlichen Nachrichten, den Zusammenhang kennen muss, um den Text richtig einzuordnen. "Das ist schon eine extreme Beeinträchtigung", sagt er. "Früher habe ich mich dafür geschämt, heute nicht mehr. Auch durch meine Tätigkeit als Schiedsrichter habe ich viel mehr Selbstvertrauen bekommen. Ich mache das Beste aus der Situation."

Der Fußball und vor allem die Schiedsrichterei sind zu ganz wichtigen Stützen in seinem Leben geworden. Wenn er als Unparteiischer unterwegs ist, blüht er auf: "Ich kann dann zeigen, dass auch Menschen mit Handicap viel erreichen können, wenn sie ihre Ziele verfolgen", betont Stabel, der erst recht spät Unparteiischer geworden ist. Aber der Fußball begleitet ihn schon immer. Bis zur B-Jugend war er für seinen Heimatverein FV 1926 Thüngersheim als Spieler selbst aktiv. Erst danach hat er sie voll auf seine Tätigkeit als Schiedsrichter konzentriert: "Ich liebe es einfach, als Unparteiischer oder Assistent im Einsatz zu sein. Das gibt mir total viel."

Für sein beachtliches Engagement hat Stabel kürzlich sogar eine Auszeichnung bekommen: Die Dr. Markus und Sabine Merk-Stiftung hat ihm den Vorbildspreis verliehen. "Ich konnte es kaum glauben, als ich davon erfahren habe", berichtet Stabel. "Ich bin wirklich stolz wie Oskar. Das ist eine großartige Anerkennung für mich. Ich freue mich riesig darüber."

Der dreimalige Weltschiedsrichter Dr. Markus Merk begründete die Auszeichnung in seiner Laudatio so: "Vor vielen Jahren kontaktierte mich Mario erstmals schriftlich. Ganz ehrlich, ich musste lernen, seine Sätze und Wörter zu lesen, seine Schriftsprache zu verstehen. Schiedsrichter wollte er sein - die Regeln haben ihn schon immer interessiert - mehr noch, er wollte als Schiedsrichter anerkannt werden. Schmerzhaft erzählt er, wie er vor vielen Jahren bei seiner unterstützenden Tätigkeit als Linienrichter bei seinem Heimatverein abgekanzelt wurde. Er sei behindert, deshalb dürfe er dem Schiedsrichter nicht assistieren. Wie dämlich! Soll das wirklich so sein?"

"Ich stehe immer irgendwo dazwischen"

Während andere sich wegen so einer Beleidigung womöglich zurückgezogen hätten, ging Stabel den anderen Weg: Jetzt wollte er es erst recht allen zeigen. Er begann seinen Kampf um Anerkennung und Akzeptanz. Merk imponierte das, wie er in seiner Laudatio weiter verdeutlichte: "Er geht offen mit seiner Schwäche um. Das ist definitiv eine Stärke, aber selbst fühlt er sich irgendwo dazwischen."

So sage Stabel selbst eindrucksvoll und bildlich: "Auf der einen Seite ist da mein Handicap, auf der anderen Seite muss doch die Leistung zählen, gewürdigt werden. Ich stehe immer irgendwo dazwischen, nicht in der einen oder anderen Spielhälfte, sondern auf der Mittellinie des Spielfeldes." Welch ein starker und nachdenklich stimmender Vergleich, so Merk weiter in seiner Laudatio: "Mario, du bist ein Gewinn für den Fußball, ein Gewinn für das Schiedsrichterwesen, ein Gewinn für das Thema Inklusion, ein Gewinn für Menschen mit Lese- und Rechtschreibschwäche und insgesamt für unsere Gesellschaft und für uns ein würdiger Preisträger." Was für tolle Worte!

Stabel hat sich einen seiner Träume erfüllt. Aber es war ein weiter Weg. Ein steiniger Weg mit vielen Rückschlägen. Er hat jedoch nie aufgegeben. Und er hat sich dafür selbst belohnt. Inzwischen ist er als Inklusionsschiedsrichter offiziell im Bayerischen Fußball-Verband anerkannt. Seine Urkunde trägt er mit Stolz immer bei sich. Trotzdem nimmt er weiterhin mit großer Begeisterung gemeinsam mit seinem Paten und Schiedsrichter-Begleiter Tarik Özdemir an Fortbildungen der Schiedsrichtergruppe Main-Spessart teil. "Ich will immer weiter lernen", sagt Stabel. "Ich bin stolz, auf das, was ich schon erreicht habe. Aber ich bin ehrgeizig und möchte weiterkommen."

Am liebsten würde er auch Spiele von Fußballerinnen und Fußballern ohne Handicap leiten. Aber das lassen die Regularien derzeit nicht zu. Stabel lässt sich davon nicht aufhalten. Er macht weiter. Ein Leben ohne Fußball kann er sich nicht vorstellen. Ein Leben ohne die Schiedsrichterei noch weniger.

Autor*in
Autor/-in: Sven Winterschladen

Themenverwandte Links